Avraham Tory
Avraham Tory (1909–2002) war Sekretär des Ältestenrates im Ghetto Kaunas in Litauen. Von Beginn der deutschen Invasion bis zu den letzten Tagen des Ghettos führte er ein Tagebuch. Tory hielt es für unverzichtbar, die Ghettoerfahrungen zu dokumentieren und legte ein geheimes Archiv des Ghettos an.
Wichtige Fakten
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Vor dem Krieg als Anwalt und zionistischer Aktivist tätig, hielt Avraham Tory die NS-Verbrechen in seinem Tagebuch fest. Die zusammen mit anderen gesammelten Berichte, Armbinden, Befehlsdokumente der Deutschen und Zeichnungen sowie sein Tagebuch bewahrte er in fünf Holzkisten auf, die er vergrub.
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Den litauischen Pater Vaickus beauftragte er, die Kisten auszugraben und der Zionistischen Weltorganisation zu übergeben, sollte keiner der Juden den Krieg überleben.
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Torys Tagebuch und den anderen von ihm gesicherten Dokumenten ist es zu verdanken, dass ein wesentlicher Teil der Geschichte des Ghettos Kaunas nicht in Vergessenheit geraten ist.
Vor dem Zweiten Weltkrieg
Tory wurde 1909 als Avraham Golub im litauischen Lazdijai geboren, das zur damaligen Zeit zum Russischen Zarenreich gehörte. 1950 ließ er seinen russischen Nachnamen durch das hebräische Äquivalent ersetzen. Beide Namen bedeuten „Taube“.
Nach seinem Abschluss an der hebräischen Schule im litauischen Marijampole und seiner Mitgliedschaft in der allgemeinen zionistischen Jugendbewegung studierte Tory an der juristischen Fakultät in Kaunas und in den USA. Nachdem er sein Jurastudium in Kaunas abgeschlossen hatte, arbeitete Tory in den 1930er Jahren in der Kanzlei eines jüdischen Professors.
Sowjetische Annexion und deutsche Besatzung
Als die Sowjets Litauen 1940 annektierten, arbeitete Tory für die sowjetische Bauverwaltung, die Militärstützpunkte in Litauen errichtete. Die instabile politische Lage veranlasste Tory zweimal, aus Kaunas zu fliehen.
Beim ersten Mal versteckte er sich in Vilnius, um der Gefahr einer Verhaftung und Deportation nach Sibirien durch die Sowjets aufgrund seiner zionistischen, „kontrarevolutionären“ Gesinnung zu entgehen. Nachdem sich die Sowjets im Juni 1941 zurückgezogen hatten, kehrte Tory zurück, musste jedoch abermals fliehen, da ihm die von den deutschen Besatzern ausgehende Gefahr zu groß erschien. Da ihm das Überqueren der litauisch-russischen Grenze nicht möglich war, kehrte er nach Kaunas zurück, wo er zusammen mit den verbleibenden Juden von Kaunas in das Ghetto verbracht wurde.
Archivist im Ghetto
Wie andere Bewohner auch, begann Tory, Tagebuch zu führen. Nachts schrieb er (mit der Unterstützung seiner Assistentin Pnina Sheinzon) die Begebenheiten auf, die er tagsüber notiert hatte. Seine Funktion als Sekretär des Ältestenrates kam ihm dabei besonders zugute. So konnte er beispielsweise Gespräche zwischen dem Vorsitzenden Elchanan Elkes und der Gestapo festhalten. Er lieferte den Text, der mithilfe der Grafiker der Mal- und Zeichenwerkstatt zu den zwei wichtigsten dokumentarischen Aufzeichnungen des Ghettos werden sollte: die Sammlung „Und dies sind die Gesetze – nach deutscher Art“ und das Jahrbuch „Ghetto Slobodka 1942“.
Tory war eng in die Verwaltung der tagtäglichen Angelegenheiten des Ghettos involviert und mit dem Aufbau seines Geheimarchivs befasst. Für ihn war es äußerst wichtig, die Ghettoerfahrung zu dokumentieren und so er nutzte seine Position dazu, Künstler mit der Anfertigung und Beschaffung von Bildern für das Archiv zu beauftragen, wozu auch 150 Fotografien gehörten. Neben Bildmaterial archivierte er auch Dokumente oder deren Durchschläge aus verschiedenen Büros des Rates.
Flucht
Als das Ghetto im September 1943 in ein Konzentrationslager umgewandelt wurde, schwand der Einfluss des Rates bei den Deutschen. Tory versuchte, alle möglichen Wege zur Flucht ausfindig zu machen. Aufgrund seiner Verbindungen mit Gruppen außerhalb des Ghettos gelang es ihm, Pnina und ihre Tochter Shulamit in Sicherheit zu bringen.
Er traf Vorkehrungen, um auch die fünf kleinen Holzkisten zu sichern, in denen sein Tagebuch, die Sammlung der Befehle, das Jahrbuch 1942, die Berichte des Ältestenrates, Kunst und Fotografien enthalten waren. Er versteckte sie in einem Bunker unterhalb von Block C, dem nicht fertiggestellten, von den Sowjets begonnenen Wohnhaus, das zahlreichen offiziellen und heimlichen Ghettoaktivitäten diente. Tory floh am 23. März 1944 und verbrachte die letzten Monate des Krieges in einem Versteck auf einem Bauernhof außerhalb von Kaunas.
Bergung des Archivs
Unmittelbar nach der Befreiung Kaunas' im August 1944 kehrte Tory zurück in das völlig zerstörte Ghetto, um unter all dem Schutt Block C ausfindig zu machen. Er konnte nur drei der Kisten sichern, die er versteckt hatte, und brachte den Inhalt nach Polen. Unter der Auflage, sie sicher nach Bukarest zu bringen, übergab er sein Tagebuch und weitere Dokumente einem Mitglied der Organisation Bricha, die Juden dabei unterstützte, nach Palästina zu gelangen.
Tory selbst reiste durch die Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Österreich und Italien, wo er zwei Jahre lang blieb. Im Oktober 1947 kam er wohlbehalten in Tel Aviv an. Mit der Hilfe des israelischen Botschafters in Rumänien gelang es Tory, sein Tagebuch und den Großteil der einst im Ghetto Kaunas versteckten Dokumente zurückzuerhalten.
Nach dem Holocaust
Über die Jahre machte sich Tory als Jurist in Israel verdient und übernahm 1969 die Funktion des Generalsekretärs des internationalen Verbands jüdischer Rechtsanwälte (International Association of Jewish Lawyers).
Die nachhaltigste Wirkung jedoch erzielte er mit der Veröffentlichung seines Tagebuchs und der Rettung der anderen geheimen Archivdokumente. Sein Tagebuch, das seit den 1960er Jahren regelmäßig als Beweismaterial gegen litauische und deutsche Täter konsultiert wird, stellt einen einzigartigen Augenzeugenbericht dar. Es wurde 1988 zuerst auf Hebräisch veröffentlicht und zwei Jahre später auf Englisch unter dem Titel Surviving the Holocaust: The Kovno Ghetto Diary (1990).
Dem Tagebuch von Tory und den anderen von ihm gesicherten Dokumenten ist es zu verdanken, dass ein wesentlicher Teil der Geschichte des Ghettos Kaunas nicht in Vergessenheit geraten ist.