Einführung

Josef Mengele gehört zu den infamsten Gestalten des Holocaust. Seine Tätigkeit in Auschwitz und die dort von ihm durchgeführten medizinischen Experimente machten ihn zweifellos zum bekanntesten Täter der an diesem Ort verübten Verbrechen. Sein Leben im Versteck nach dem Krieg wurde zu einem Symbol des internationalen Versagens, die Verbrecher der NS-Zeit vor Gericht zu stellen.

Wegen seiner Grausamkeit wurde Mengele später in zahlreichen Büchern, Filmen und Fernsehsendungen thematisiert. Viele dieser Darstellungen verzerren die Tatsachen seiner Verbrechen und lösen Mengele aus dem historischen Kontext heraus. Einige porträtieren Mengele als wahnsinnigen Wissenschaftler, der ohne wissenschaftliche Grundlage sadistische Versuche durchführte.

Die Wahrheit über Mengele ist jedoch weitaus verstörender. Mengele war ein hervorragend ausgebildeter Mediziner und Forscher und dekorierter Kriegsveteran. Er war für seine Fachkompetenz angesehen und für eines der führenden Forschungsinstitute Deutschlands tätig. Ein Großteil seiner medizinischen Forschung in Auschwitz unterstützte die Arbeit anderer deutscher Wissenschaftler. Er war einer von vielen biomedizinischen Forschern, die in den NS-Konzentrationslagern Versuche an Gefangenen durchführten. Zudem war er  einer von mehreren Medizinern, die Opfer zur Ermordnung in den Gaskammern in Auschwitz selektierten. 

Mengele handelte im Rahmen der wissenschaftlichen Normen, die seinerzeit unter dem NS-Regime in Deutschland galten. Seine Verbrechen verdeutlichen, welche extreme Gefahr von Wissenschaft ausgeht, die im Rahmen einer Ideologie praktiziert wird, die bestimmten Menschengruppen ihre Rechte, Würde und sogar Menschlichkeit abspricht.

Mengele vor seiner Zeit in Auschwitz  

Josef Mengele wurde am 16. März 1911 im bayerischen Günzburg geboren. Er war der älteste Sohn von Karl Mengele, einem wohlhabenden Hersteller von landwirtschaftlichen Maschinen. 

Mengele studierte an mehreren Universitäten Medizin und biologische Anthropologie. 1935 promovierte er an der Universität München im Fach biologische Anthropologie. 1936 absolvierte Mengele das medizinische Staatsexamen.  

1937 nahm er seine Arbeit am Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene in Frankfurt auf. Dort war er Assistent des Direktors, Dr. Otmar von Verschuer. Verschuer war ein führender Genetiker, der für seine Forschungen über Zwillinge bekannt war. Unter der Leitung von Verschuer erwarb Mengele 1938 einen weiteren Doktortitel. 

Befürwortung der NS-Ideologie

Mengele hatte die NSDAP vor ihrem Wahlerfolg nicht aktiv unterstützt. 1931 trat er allerdings dem Stahlhelm bei, einer paramilitärischen Gruppe der ebenfalls rechten Deutschnationalen Volkspartei. Mit der Eingliederung des Stahlhelms in die SA im Jahr 1933 wurde Mengele Mitglied der SA, jedoch beendete er seine aktive Mitgliedschaft 1934. 

Während seines Studiums wurde Mengele zum Anhänger der Rassenlehre, der basislosen Theorie, die dem biologischen Rassismus zugrunde liegt. Er war der Überzeugung, dass sich Deutsche biologisch von allen anderen Rassen abgrenzten und ihnen überlegen waren. Die Rassenlehre war ein wesentliches Element der NS-Ideologie. Mit ihr rechtfertigte Hitler die Zwangssterilisation von Menschen mit körperlichen oder geistigen Erkrankungen oder körperlichen Fehlbildungen. Die Nürnberger Rassengesetze, mit deren Verabschiedung Ehen zwischen Deutschen und Juden, Schwarzen oder Roma rechtswidrig wurden, beruhten ebenfalls auf den Grundsätzen der Rassenlehre. 

1938 trat Mengele der NSDAP und der SS bei. Mit seiner Arbeit als Wissenschaftler wollte er das Ziel der Nationalsozialisten unterstützen, die angebliche Überlegenheit der deutschen „Rasse“ zu wahren und auszubauen. Mengeles Vorgesetzter und Mentor, Verschuer, war ebenfalls Verfechter des biologisch begründeten Rassismus. Zusätzlich zu seiner Forschungsarbeit beriet Verschuer mit seinem Team, darunter auch Mengele, die NS-Behörden bei der Fragestellung, wann eine Person nach den Nürnberger Gesetzen als deutsch einzustufen sei. Mengele und seine Kollegen begutachteten aber auch Menschen, die aufgrund ihrer körperlichen oder mentalen Verfassung nach damaligem Recht mitunter für eine Zwangssterilisation oder ein Eheverbot in Frage kamen. 

Dienst an der Ostfront 

Im Juni 1940 wurde Mengele zur Wehrmacht eingezogen. Einen Monat später meldete er sich freiwillig für den medizinischen Dienst der Waffen-SS. Zunächst arbeitete er im besetzten Polen für das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA). Die Aufgabe Mengeles bestand darin, die Kriterien und Methoden zu bewerten, mit denen die SS bestimmte, ob Personen, die angaben, deutscher Abstammung zu sein, die ,,rassischen" und physischen Voraussetzungen hierfür erfüllten. 

Gegen Ende des Jahres 1940 wurde Mengele als Truppenarzt in die SS-Panzerdivision Wiking versetzt. Ab Juni 1941 wurde er etwa 18 Monate lang Augenzeuge der extrem brutalen Kämpfe an der Ostfront. In den ersten Wochen nach dem Angriff der Deutschen auf die Sowjetunion metzelte Mengeles Division zudem Tausende jüdischer Zivilisten nieder. Für seinen Einsatz an der Ostfront wurde Mengele mit dem Eisernen Kreuz I. und II. Klasse ausgezeichnet und zum SS-Hauptsturmführer befördert. 

Im Januar 1943 kehrte Mengele nach Deutschland zurück. Während er auf seinen nächsten Einsatz für die Waffen-SS wartete, nahm er seine Arbeit für seinen Mentor Verschuer wieder auf. Verschuer war kurz zuvor zum Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) in Berlin berufen worden. 

Versetzung nach Auschwitz

Am 30. Mai 1943 wurde Mengele von der SS nach Auschwitz versetzt. Es gibt Hinweise darauf, dass Mengele diese Versetzung selbst beantragt hat. Er war als einer von mehreren Lagerärzten in Auschwitz-Birkenau tätig. Auschwitz-Birkenau war das größte Auschwitz-Lager und diente zudem als Tötungsanstalt für Juden, die aus ganz Europa dorthin deportiert wurden. Unter anderem war Mengele für das sogenannte ,,Zigeunerlager" in Birkenau verantwortlich. Ab 1943 wurden fast 21.000 Roma, darunter Männer, Frauen und Kinder, die abwertend als ,,Zigeuner" bezeichnet wurden, nach Auschwitz deportiert und im „Zigeunerlager“ inhaftiert. Als das Familienlager am 2. August 1944 aufgelöst wurde, war Mengele an der Selektion von 2.893 Roma beteiligt, die in den Gaskammern von Birkenau ermordet werden sollten. Kurz darauf wurde er zum leitenden Arzt für den Teil des Lagerkomplexes ernannt, der als Auschwitz-Birkenau or Auschwitz II bezeichnet wurde. Im November 1944 wurde er in das SS-Lazarett Birkenau versetzt.

„Todesengel“: Selektion von Gefangenen

Im Rahmen seiner Lageraufgaben führte das medizinische Personal in Auschwitz sogenannte „Selektionen“ durch. Zweck der Selektion war die Identifizierung arbeitsunfähiger Personen. Arbeitsunfähige Personen wurden von der SS für nutzlos befunden und deshalb ermordet. Bei Ankunft der Judentransporte in Birkenau selektierten die Lagerärzte einige körperlich taugliche Erwachsene zur Zwangsarbeit im Lager. Diejenigen, die nicht ausgewählt wurden, darunter Kinder und ältere Menschen, wurden in den Gaskammern getötet.

Die Lagerärzte in Auschwitz und anderen Konzentrationslagern führten regelmäßig Selektionen in den Krankenstationen und Baracken der Lager durch. Mit dieser Maßnahme sollten Gefangene ausfindig gemacht werden, die verletzt oder zu krank oder zu schwach zum Arbeiten waren. Die SS setzte verschiedene Methoden zur Tötung der Gefangenen ein, darunter Giftspritzen und Vergasung. Mengele führte solche Selektionen routinemäßig in Birkenau aus, weshalb er von einigen Gefangenen als „Todesengel“ bezeichnet wurde. Die Gefangene Gisella Perl, die als jüdische Gynäkologin in Birkenau arbeitete, erinnerte sich später daran, wie das Erscheinen Mengeles in der Krankenstation die weiblichen Gefangenen mit panischer Angst erfüllte:

Wir fürchteten nichts mehr als diese Visiten, denn [. . .] wir wussten nie, ob es uns erlaubt war, am Leben zu bleiben [. . .] Er konnte mit uns machen, was er wollte.

Zitiert aus Gisella Perls Memoiren Ich war eine Ärztin in Auschwitz.1

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte Mengele schreckliche Berühmtheit für seine Arbeit in Auschwitz, nachdem Gefangene, die ihm als Ärzte zuarbeiten mussten, sowie Gefangene, die seine medizinischen Experimente überlebt hatten, Zeugnis darüber abgelegt hatten. 

Mengele war einer von etwa 50 Ärzten, die in Auschwitz im Dienst standen. Er war weder der höchstrangige Arzt im Lagerkomplex Auschwitz noch der Vorgesetzte der anderen Lagerärzte. Dennoch ist sein Name der bei weitem bekannteste unter allen Ärzten in Auschwitz. Ein Grund dafür ist die häufige Präsenz Mengeles an der Rampe, an der die Selektionen durchgeführt wurden. Wenn Mengele die Selektion nicht selbst durchführte, war er dennoch oft selbst anwesend, um unter den Gefangenen Ausschau nach Zwillingen für seine Versuche sowie nach Ärzten für die Krankenstation Birkenau zu halten. Dementsprechend gingen viele Überlebende, die bei ihrer Ankunft in Auschwitz der Selektion unterzogen wurden, davon aus, Mengele sei der Arzt gewesen, der sie selektiert hatte. Mengele übte diese Tätigkeit jedoch nicht öfter aus als seine Kollegen. 

Biomedizinische Forscher in Auschwitz 

Biomedizinische Forscher waren von der SS autorisiert worden, in den Konzentrationslagern unethische Versuche an Menschen durchzuführen, die oft tödlich endeten. Auschwitz stellte zudem für andere Konzentrationslager Gefangene für die Durchführung menschlicher Versuche bereit. Aber auch in Auschwitz selbst wurden verschiedenste Experimente an Menschen durchgeführt. Grund dafür war die hohe Zahl der Gefangenen, die dorthin verbracht wurden. Die SS deportierte 1,3 Millionen Männer, Frauen und Kinder zahlreicher unterschiedlicher Nationalitäten und Ethnien nach Auschwitz. Forscher, die auf der Suche nach Versuchspersonen mit bestimmten Kriterien waren, fanden diese einfacher in Auschwitz als in einem anderen Lager.

Mengele war einer von mehreren SS-Medizinern, die Versuche an in Auschwitz inhaftierten Personen durchführten. Dazu gehörten unter anderem:

  • Eduard Wirths, SS-Standortarzt in Auschwitz
  • Carl Clauberg, renommierter Spezialist für die Behandlung von Unfruchtbarkeit
  • Horst Schumann, der Tausende von Patienten mit Behinderungen im Rahmen des NS-,,Euthanasieprogramms" vergaste
  • SS-Arzt Helmut Vetter, der Arzneimittelversuche für das der I. G. Farben angeschlossene Unternehmen Bayer an Gefangenen der Konzentrationslager Dachau, Auschwitz und Gusen durchführte
  • Johann Paul Kremer, Professor der Anatomie

Diese Ärzte sahen in der Entsendung nach Auschwitz eine hervorragende Gelegenheit, ihre Forschung voranzubringen.

Arten der durchgeführten Experimente

Durch die Experimente in den Konzentrationslagern wurden viele Opfer verstümmelt oder sie kamen dabei zu Tode. Bei einigen Experimenten war der Tod der Opfer das beabsichtigte Ergebnis. Das medizinische Personal, das die Versuche durchführte, holte dazu weder die Zustimmung der Gefangenen ein noch wurden diese über die Behandlung oder mögliche Auswirkungen aufgeklärt. Folgende Arten von Experimenten wurden in Auschwitz durchgeführt:

  • Testen von Methoden der Massensterilisation
  • Zufügen von Wunden oder Infizieren der Versuchspersonen mit Krankheitserregern zur Untersuchung von Nebenwirkungen und Erproben von Behandlungsmethoden
  • Durchführen medizinisch unnötiger Operationen und Verfahren an Patienten zu Forschungszwecken oder zur Schulung von medizinischem Personal
  • Ermorden und Sezieren von Gefangenen zu anthropologischen und medizinischen Forschungszwecken

Mengeles Experimente in Auschwitz

Neben seinen regulären Aufgaben in Auschwitz führte Mengele auch Forschungsprojekte und Versuche an Gefangenen durch. Möglicherweise hatte sein Mentor Verschuer die Entsendung Mengeles nach Auschwitz in die Wege geleitet, damit dieser die Forschung für das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) unterstützen konnte. Während seiner gesamten Zeit in Auschwitz belieferte Mengele seine Kollegen in Deutschland mit Blutproben, Körperteilen, Organen, Skeletten und Föten, die von Gefangenen aus Auschwitz stammten. Mengele unterstützte die Forschungsprojekte seiner Kollegen, indem er Studien und Versuche für sie an Gefangenen durchführte. 

Abgesehen von der Zusammenarbeit mit dem KWI-A führte Mengele auch eigene Experimente an Gefangenen durch. Er hoffte, die Ergebnisse veröffentlichen und sich so für eine Universitätsprofessur qualifizieren zu können. 

Während seiner Zeit in Auschwitz baute Mengele einen Forschungskomplex auf, der aus mehreren Baracken bestand. Seine Mitarbeiter wählte er unter den Gefangenen mit medizinischer Ausbildung aus. Mengele gelang es, moderne Instrumente und Ausrüstung für seine Forschung zu erhalten und sogar ein pathologisches Labor einzurichten. 

Forschungsziele

Schwerpunkt der Forschungsarbeit Mengeles für sich selbst und das KWI-A war die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen genetischer Veranlagung und der Ausbildung bestimmter physischer und geistiger Merkmale. Bei ethischer Durchführung handelt es sich dabei um ein legitimes und wichtiges Gebiet der Genforschung. Die Arbeit von Mengele, Verschuer und ihren Kollegen jedoch war verzerrt durch die pseudowissenschaftliche Rassentheorie, die einen wesentlichen Baustein der NS-Ideologie darstellte und von der sie fest überzeugt waren. Laut dieser Theorie würden sich menschliche ,,Rassen" durch bestimmte genetische Voraussetzungen voneinander unterscheiden. Sie unterstellte das Vorhandensein einer hierarchischen Ordnung der ,,Rassen" und behauptete, dass „minderwertige Rassen" genetisch bedingt eher negative Merkmale ausbilden als die Mitglieder „überlegener Rassen". Diese negativen erblichen Merkmale wirkten sich der Theorie zufolge nicht nur auf körperliche und geistige Krankheiten und Defizienzen aus. Angeblich waren sie auch für sozial inakzeptables oder unmoralisches Verhalten verantwortlich, wie Vagabundieren, Prostitution und Kriminalität. Dieser Rassentheorie zufolge würden durch Mischehen negative Merkmale auf die „überlegenen Rassen" übertragen und diese letztlich geschädigt. 

Mengeles Forschungsziel bestand darin, bestimmte physische und biochemische Marker zu identifizieren, mit denen sich Menschen eindeutig einer bestimmten ,,Rasse" zuordnen ließen. Mengele und seine Kollegen waren der Überzeugung, dass die Entdeckung solcher Marker ausschlaggebend für den Erhalt der vermeintlichen „rassischen Überlegenheit des deutschen Volkes“ war. Für Mengele und seine Kollegen rechtfertigte die Bedeutung der Forschung das Durchführen schädlicher und tödlicher Experimente an Menschen, in dem Fall an den Gefangenen in Auschwitz, die sie als ,,rassisch minderwertig" betrachteten.

Wer waren Mengeles Opfer?

Mengele wählte seine Opfer hauptsächlich unter zwei ethnischen Gruppen aus: Roma und Juden. Für die biomedizinischen Forscher der NS-Zeit waren diese Gruppen besonders interessant. Der NS-Ideologie zufolge galten sowohl Roma als auch Juden als „Untermenschen“, die eine Gefahr für die „deutsche Rasse“ darstellten. Ethische Überlegungen hinsichtlich der Vertretbarkeit medizinischer Versuche an den Mitgliedern dieser Gruppen standen für die NS-Wissenschaftler deshalb nicht zur Debatte. 

Während der Zeit von Mengele in Auschwitz-Birkenau waren mehr als 20.000 Roma dort inhaftiert und mehrere Hunderttausend Juden kamen in Transporten hinzu. Nirgendwo sonst auf der Welt hatten Wissenschaftler Zugang zu so vielen Vertretern dieser Gruppen an einem einzigen Ort. Und nirgendwo sonst stand es in ihrer Macht, beliebige Versuche an Menschen durchzuführen. Mengele kommentierte einem Kollegen gegenüber, dass es unverantwortlich sei, die Chancen zur Durchführung menschlicher Versuche in Auschwitz-Birkenau nicht zu nutzen.

Roma

Abgesehen von der Auswahl von Roma als Versuchspersonen für seine Experimente führte Mengele eine anthropologische Studie an Roma-Männern, -Frauen und -Kindern im „Zigeunerlager“ durch. Als bei Roma-Kindern im Lager Noma ausbrach, eine bakterielle Infektionskrankheit am Mund, beauftragte er inhaftierte Ärzte mit der Durchführung einer Untersuchung. Noma (auch „Wasserkrebs“-Epidemie genannt) tritt vorrangig bei stark unterernährten Kindern auf. Mengele war jedoch der Auffassung, dass nicht die Lagerbedingungen ursächlich für den Noma-Ausbruch waren, sondern die genetische Veranlagung der Roma-Kinder. Den unter den Gefangenen rekrutierten Ärzten war es gelungen, eine Heilmethode für die normalerweise tödlich verlaufende Krankheit zu finden. Dennoch wurden alle geheilten Kinder am Ende in den Gaskammern getötet.

Zwillinge

In den 1930er Jahren war die Zwillingsforschung Schwerpunkt der humangenetischen Forschung. Vor dem Zweiten Weltkrieg erforschten Verschuer und andere biomedizinische Forscher die erblichen Grundlagen für Krankheiten an Zwillingen. Diese frühen Forschungen erfolgten zwar mit der Zustimmung der Zwillinge oder ihrer Eltern, jedoch standen den Forschern nicht sehr viele Zwillingspaare für solche Studien zur Verfügung. In Auschwitz fand Mengele Hunderte von Zwillingspaaren unter den deportierten Juden und bereits inhaftierten Roma vor. Nie zuvor war es einem Forscher gelungen, Untersuchungen und Versuche an einer so großen Zahl von Zwillingen durchzuführen. 

Mengele wies seine Mitarbeiter an, jeden Bereich an den Körpern der Zwillinge zu vermessen und zu erfassen. Er entnahm den Zwillingen große Mengen an Blut und nahm zeitweise auch andere schmerzhafte Eingriffe an ihnen vor. 

[...] Sie verabreichten uns überall am Körper Injektionen. Daraufhin wurde meine Schwester krank. Ihr Hals war infolge einer schweren Infektion angeschwollen. Sie lieferten sie ins Krankenhaus ein und operierten sie unter primitivsten Bedingungen und ohne Narkose. (…)

Aus dem Bericht von Lorenc Andreas Menasche, Lagernummer A 12090.2

Es kam auch vor, dass Mengele zeitgleich Zwillingspaare tötete, um Autopsien an ihren Körpern durchführen zu können. Nach Abschluss der Autopsien schickte er einige ihrer Organe an das KWI-A.

Menschen mit angeborenen Anomalien

Bei der Selektion neu angekommener Juden an der Rampe von Auschwitz-Birkenau hielt Mengele Ausschau nach Menschen mit körperlichen Fehlbildungen. Dazu gehörten beispielsweise Menschen mit Zwergenwuchs, Riesenwuchs oder Klumpfuß. Nachdem Mengele sie untersucht hatte, ließ er sie töten. Ihre Leichen schickte er für Untersuchungszwecke nach Deutschland.

In Mengeles Suchraster fielen auch Roma und Juden mit Heterochromie, bei der ein Mensch verschiedenfarbige Augen hat. Einer von Mengeles Kollegen am KWI-A interessierte sich ganz besonders für dieses Phänomen. Mengele ließ Menschen mit Heterochromie in Auschwitz töten und schickte die Augen an seinen Kollegen. 

Kinder

Die meisten der Opfer, an denen Mengele medizinische Experimente durchführte, waren Kinder. Die von Mengele für seine Versuche selektierten Kinder waren in getrennten Baracken untergebracht und wurden etwas besser ernährt und behandelt als andere Lagerbewohner. Mengele trat den Kindern gegenüber freundlich auf. Moshe Ofer, der Mengeles Experimente überlebte, erinnerte sich 1985:

[Mengele] besuchte uns wie ein guter Onkel und brachte uns Schokolade mit. Bevor er das Skalpell oder eine Spritze ansetzte, sagte er immer: ‚Keine Angst, es passiert dir nichts ...‘ ... er injizierte chemische Substanzen und führte eine Operation an Tibis Wirbelsäule durch. Nach den Experimenten brachte er uns immer Geschenke mit ... Bei späteren Experimenten steckte er uns Nadeln in den Kopf. Die Narben der Einstiche sind heute noch sichtbar. Eines Tages brachte er Tibi weg. Mein Bruder war mehrere Tage lang verschwunden. Als er zurückgebracht wurde, war sein ganzer Kopf bandagiert. Er starb in meinen Armen.3

Mengele führte an Kindern sowohl Experimente für seine eigenen Untersuchungen durch, unterstützte aber auch die Arbeit des KWI-A. Im Rahmen einer solchen Studie über die Ausbildung der Augenfarbe träufelte er Kindern und Neugeborenen eine von einem Kollegen bereitgestellte Substanz in die Augen. Die Ergebnisse reichten von Reizungen und Schwellungen bis hin zu Blindheit und Tod.

Ein Gefangener, der den Auftrag hatte, sich um die von Mengele ausgewählten jüdischen Zwillinge zu kümmern, beschrieb später, wie die Kinder emotional und körperlich auf die Behandlung reagierten:

Blutproben wurden zuerst an den Fingern und dann an den Arterien entnommen. Manchmal zwei oder drei Mal an jedem Opfer. Die Kinder schrien und versuchten sich zu schützen, indem sie sich bedeckten. Das Personal musste Gewalt anwenden. (…) Sie erhielten auch Tropfen in die Augen … Einige Kinder in beide Augen, manche nur in eines. ... Die Resultate dieser Maßnahmen waren für die Opfer schmerzhaft. Ihre Augenlider schwollen stark an und die Augen brannten ...4

Flucht vor der Justiz

Als die Rote Armee im Januar 1945 durch das westliche Polen vordrang, floh Mengele mit dem restlichen SS-Lagerpersonal aus Auschwitz. In den darauffolgenden Monaten wurde er im Konzentrationslager Groß-Rosen und den zugehörigen Außenlagern eingesetzt. In den letzten Kriegstagen legte er eine Wehrmachtsuniform an und trat einer Militäreinheit bei. Nach Kriegsende ergab sich die Einheit den US-Streitkräften. 

Da er als Offizier der Wehrmacht in Erscheinung trat, kam Mengele in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Anfang August 1945 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen. Den US-Militärbehörden war entgangen, dass sein Name bereits auf einer Fahndungsliste gesuchter Kriegsverbrecher stand. 

Von Ende 1945 bis Frühjahr 1949 arbeitete Mengele unter falschem Namen als Knecht auf einem oberbayerischen Bauernhof nahe Rosenheim. Von dort war es ihm gelungen, Kontakt zu seiner Familie aufzunehmen. Als die Verbrechen, die Mengele in Auschwitz begangen hatte, im Rahmen von US-Ermittlungen ans Tageslicht kamen, versuchte man, ihn ausfindig zu machen und festzusetzen. Aufgrund der Behauptungen seiner Familie gingen die Ermittler jedoch vom Tod Mengeles aus. In Anbetracht der Fahndung nach ihm durch die US-Behörden kam Mengele zu dem Schluss, dass er in Deutschland nicht mehr sicher war. Mit finanzieller Unterstützung durch seine Familie setzte sich Mengele unter einem abermals falschen Namen im Juli 1949 nach Argentinien ab.  

Bis 1956 hatte sich Mengele in Argentinien gut etabliert und fühlte sich so sicher, dass er als José Mengele die argentinische Staatsbürgerschaft annahm. 1959 erfuhr er jedoch, dass westdeutsche Ermittler Kenntnis von seinem Aufenthalt in Argentinien hatten und nach ihm fahndeten. Mengele immigrierte nach Paraguay und erhielt auch dort die Staatsbürgerschaft. Im Mai 1960 entführten israelische Geheimdienstagenten Adolf Eichmann in Argentinien und stellten ihn in Israel vor Gericht. Mengele vermutete richtig, dass die Israelis auch ihn im Visier hatten und floh aus Paraguay. Unterstützt durch seine Familie in Deutschland verbrachte er den Rest seines Lebens unter einem Decknamen in der Nähe der brasilianischen Stadt São Paulo. Am 7. Februar 1979 erlitt Mengele beim Schwimmen in einem Ferienort nahe Bertioga in Brasilien einen Herzinfarkt und ertrank. Unter dem Decknamen Wolfgang Gerhard wurde er in einem Vorort von São Paulo beigesetzt. 

Entdeckung und Identifizierung des Leichnams von Mengele

Im Mai 1985 beschlossen die Regierungen von Deutschland, Israel und den Vereinigten Staaten, Mengele gemeinsam aufzuspüren und der Justiz zu überstellen. Bei einer Razzia in der Wohnung eines Freundes der Familie Mengele in Günzburg stieß die deutsche Polizei auf Hinweise, wonach Mengele verstorben und in der Nähe von São Paulo beigesetzt worden war. Die brasilianische Polizei machte Mengeles Grab ausfindig und exhumierte den Leichnam Mengeles im Juni 1985. Amerikanische, brasilianische und deutsche Forensiker identifizierten die sterblichen Überreste eindeutig als die von Josef Mengele. 1992 wurde diese Schlussfolgerung durch einen DNA-Test bestätigt. 

Mengele hatte sich 34 Jahre lang der Verhaftung entzogen und wurde nie vor Gericht gestellt.