Theme: Nach dem Krieg

Was haben wir über Risikofaktoren und Warnsignale für Völkermord erfahren?

Die Beschäftigung mit dem Holocaust wirft die Frage auf, wie die Welt heute Anzeichen von Völkermord oder Massengräueltaten erkennen und darauf reagieren kann. Wenngleich jeder Völkermord anders ist, können überall dort, wo es zu Völkermord kommt, gemeinsame Risikofaktoren und Warnsignale beobachtet werden. 

Befasst Euch mit dieser Fragestellung und überlegt, wie Anzeichen für Völkermord heute identifiziert werden können und in welcher Form sie während des Holocaust und bei anderen Völkermorden vorlagen. 

Hintergrundinformationen zu dieser Diskussion sind den verwandten Artikeln zu entnehmen.

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Risikofaktoren und Warnsignale

Auch nach dem Holocaust kam es immer wieder zu Völkermord. Beispiele dafür sind die Völkermorde in Ruanda 1994 und im bosnischen Srebrenica 1995.  

Jeder Völkermord ist anders, aber es gibt Gemeinsamkeiten. So wie es damals wichtige Voraussetzungen gab, die den Holocaust ermöglicht hatten, gibt es auch heute identifizierbare Risikofaktoren für Völkermord. Zu den gängigsten Risikofaktoren gehören:

  • Instabilität: Eines der stärksten Anzeichen für potenziellen Völkermord ist allgemeine Instabilität. Instabilität kann von einem bewaffneten Konflikt oder von Entwicklungen herrühren, welche die Macht eines Regimes gefährden, wie Staatsstreiche, Revolution oder Aufstände. Es gibt mehrere Gründe, weshalb Instabilität zu einem erhöhten Risiko für Völkermord beitragen kann. Staatsoberhäupter fühlen sich möglicherweise bedroht, Bürger unsicher und geltendes Gesetz wird ausgehebelt oder vernachlässigt. In einer solchen Situation sind Staat und Bevölkerung mitunter eher bereit, Gewalt in Betracht zu ziehen, um sich, und das was ihnen wichtig ist, zu schützen.  
  • Ideologie: Völkermord findet oft dann statt, wenn Regierende der Auffassung sind, dass bestimmte Menschen in ihrem Land aufgrund ihrer Rasse, Religion, nationalen oder ethnischen Herkunft minderwertig oder gefährlich seien. In Ruanda waren die Führer der Hutu-Mehrheit davon überzeugt, dass die Tutsi-Minderheit die Hutus beherrschen wollte. In Bosnien waren die serbischen Anführer der Auffassung, die muslimischen Bosniaken seien eine Bedrohung für die Freiheit und Kultur der christlich-orthodoxen Serben.
  • Diskriminierung und Gewalt gegen bestimmte Gruppen: Dort wo Völkermord stattfindet, kam es in der Regel schon vorher zu Diskriminierung, Verfolgung und Gewalt gegenüber Menschen, die einer bestimmten Gruppe angehören. In Ruanda waren die Tutsis verschiedenen Formen von Diskriminierung ausgesetzt. In den vorherigen Jahrzehnten war es mehrfach zu Massengewalt gegen Tutsis gekommen. Bosnisch-serbische Einheiten verübten bereits vor dem Völkermord von Srebrenica mehrere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit an bosniakischen und kroatischen Gemeinschaften.

Die Faktoren, die ein Land potenziell dem Risiko eines Völkermords aussetzen, bestehen mitunter schon lange Zeit vorher, ohne dass sie bislang zu Völkermord geführt haben. Folgende Warnsignale können darauf hindeuten, dass das Risiko für Völkermord möglicherweise steigt:

  • Gefährliche Rhetorik: Vor und während eines Völkermords kommt es oft zur Verbreitung von Hassreden. In Hassreden wird der Gedanke geschürt, dass die Mitglieder einer bestimmten Gruppe bösartig und gefährlich seien. Wenn diese Reden von einflussreichen Autoritätspersonen stammen und über Regierungspropaganda oder gängige Medien verbreitet werden, kann beim Publikum die Überzeugung geprägt werden, dass Gewalt gegen die angeprangerte Gruppe gerechtfertigt sei. Hassreden können Menschen auch dazu bewegen, Gewalt gegen Mitglieder einer Gruppe anzuwenden. Die Verantwortlichen für die Völkermorde in Ruanda und Srebrenica hatten alle Hassreden gegen die Opfer verbreitet.
  • Bewaffnete Gruppen: Vor einem Völkermord stellen politische Führer oft Spezialeinheiten auf, die ihre Ideologie und ihre Ziele teilen. Hitler beispielsweise richtete 1925 die SS (Schutzstaffel) ein. Diese Gruppen werden mit Waffen ausgestattet und militärisch ausgebildet. So gerüstet, wenden sie gegen die Mitglieder einer bestimmten Gruppe Gewalt an. Während des Völkermords in Ruanda hat die Interahamwe-Miliz Massenmorde in bestimmten Gebieten durchgeführt.
  • Bewaffneter Konflikt: Zu Völkermord kommt es oft im Zuge eines bewaffneten Konflikts. Die Völkermorde in Ruanda und Bosnien ereigneten sich während eines Bürgerkriegs. Der Holocaust und der Völkermord in Armenien fanden im Rahmen von internationalem Kriegsgeschehen statt. Zu Völkermord kann es kommen, wenn beide Seiten des bewaffneten Konflikts ihre Angriffsziele von den gegnerischen Soldaten auf zivile Gruppen ausdehnen, die als Unterstützer des Feindes betrachtet werden. Massengräueltaten gegen Zivilisten, die einer bestimmten Gruppe angehören, können zu Gewalteskalation führen. Durch Vertiefen der Feindschaft zwischen den Gruppen kann auch das Risiko für Völkermord steigen. Dies provoziert mitunter Racheakte und spielt den Kriegsführern weitere Rekruten zu, während Politiker einen Vorwand haben, einen Generalangriff gegen die Mitglieder einer bestimmten Gruppe durchzuführen.

Die konkreten Faktoren, die in Europa, Ruanda und Bosnien jeweils zu Völkermord führten, waren sehr unterschiedlich. In allen Fällen gab es jedoch Risikofaktoren und Warnsignale, die erkennbar waren. Alle, die Völkermord organisieren und durchführen, sind auf die aktive Unterstützung zahlreicher Amtsträger und Zivilisten angewiesen und auch die der Mitläufer und Zeugen, welche die Verfolgung und Ermordung ihrer Mitmenschen mitbekommen und manchmal auch davon profitieren.

Frühe Warnzeichen

Heute ist die internationale Gemeinschaft bemüht, auf das Vorhandensein von Risikofaktoren und Warnsignalen, die auf Völkermord hindeuten könnten, zu achten. Durch Erkennen dieser Anzeichen kann die Welt handeln und verhindern, dass es zu Ermordungen kommt. Da Völkermord in der Regel im Kontext anderer Massengräueltaten stattfindet, stehen bei den Präventionsbemühungen nicht nur Völkermord, sondern auch andere damit im Zusammenhang stehende Taten im Fokus. Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen werden heute im Allgemeinen als Gräueltaten oder Massengräueltaten bezeichnet.

Je mehr wir über die Risikofaktoren, Warnsignale und Auslöser wissen, die in der Vergangenheit zu Völkermord geführt haben, desto besser gelingt es, zukünftigen Völkermord zu verhindern. Das vom Museum und vom Dartmouth College ins Leben gerufene „Early Warning Project“ liefert uns erstmals ein Werkzeug, das Politikschaffende und die Öffentlichkeit auf Gebiete aufmerksam macht, in denen das Risiko für Massengräueltaten am höchsten ist. Überall auf der Welt haben Menschen so die Möglichkeit, zum gemeinsamen Handeln aufzurufen, bevor es zu spät ist.

Kritische Fragen

  • Wie können Bürger und Amtsträger eines Landes Warnsignale identifizieren und darauf reagieren? Auf welche Hindernisse könnten sie stoßen?

  • Wie können andere Länder und internationale Organisationen auf die Warnsignale in einem Land reagieren? Welche Hindernisse könnten dabei auftreten?

  • Inwiefern kann das Wissen über die Ereignisse in Deutschland und Europa vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten den Menschen heute helfen, bestehende Gefahren von Völkermord und Massengräueltaten zu erkennen und darauf zu reagieren?

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