Welche Gemeinsamkeiten wiesen der Rassismus im Dritten Reich und in den Vereinigten Staaten in den 1920er bis 1940er Jahren auf?
Die Bedeutung der Begriffe „Rasse“ und „Rassismus“ hat sich im Laufe der Zeit in den verschiedenen politischen, sozialen und kulturellen Konstellationen verändert. Rassismus im NS-Regime und Rassismus in den USA sind zwei eigene und komplexe Themen. In dieser Diskussion geht es um die Geschichte des rassistischen Antisemitismus in Deutschland im Vergleich zum Rassismus in den USA. Erfahrt mehr darüber, welche Aspekte ähnlich und welche unterschiedlich waren.
Hintergrundinformationen zu dieser Diskussion sind den verwandten Artikeln zu entnehmen.
Hintergrund
Der Rassismus hat sich je nach dem jeweiligen historischen, politischen und kulturellen Kontext in beiden Ländern unterschiedlich entwickelt.
Einige der Diskriminierungs- und Segregationspraktiken im Dritten Reich und in den USA waren ähnlich. Allerdings waren die Ziele der rassistischen Politik und die politischen Systeme, in denen sie existierte, unterschiedlich. Das Ziel des Rassismus in den USA bestand darin, Afroamerikaner dauerhaft, oft unter Anwendung von Gewalt, aus nahezu allen gesellschaftlichen Aspekten auszugrenzen und auszubeuten. (Eine kleine Minderheit in den USA sprach sich für die Deportation der Schwarzen nach Afrika aus.) Im nationalsozialistischen Regime ging es anfangs darum, einen „rassisch reinen und judenfreien“ Staat zu schaffen. Mit Isolierung, Verarmung und Terror sollte Druck aufgebaut werden, um die Juden zum Auswandern zu bewegen. Während des Zweiten Weltkriegs, auf dem Höhepunkt der NS-Herrschaft in Europa, wurde ein neues Ziel formuliert: der Völkermord aller europäischer Juden wurde beschlossen.
Welche Aspekte von Rassismus und Eugenik in den Vereinigten Staaten haben sich am stärksten auf den Rassismus in der NS-Diktatur ausgewirkt?
Einige US-Gesetze und Praktiken, die Rassismus und Eugenik verankerten, dienten Adolf Hitler und den Nationalsozialisten als Inspiration.
Noch vor seiner Machtübernahme ging Hitler in seinem 1925 erschienenen politischen Manifest Mein Kampf auf die US-Politik ein. Hitler verachtete zwar die amerikanische Demokratie, jedoch war er von der amerikanischen Ideologie des „Manifest Destiny“ beeindruckt. Die Vereinigten Staaten rechtfertigten mit diesem Konzept die brutal durchgesetzte Umsiedlung der indigenen Bevölkerung Amerikas. Die Amerikaner expandierten Richtung Westen und vernichteten indigene Völker, um Platz für weiße Siedler zu schaffen. Für Hitler dienten diese geschichtlichen Ereignisse als Vorbild. Er war der Auffassung, dass auch Deutschland dem nationalistischen Streben nach Gebietserweiterungen Richtung Osten nachkommen sollte. Dieser Wunsch wurzelte zum Teil in der Enttäuschung Deutschlands, beim Wettlauf um Kolonialgebiete zu spät angetreten zu sein. Die wenigen Kolonien, die sich Deutschland hatte sichern können, wurden ihm nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg wieder abgenommen.
Die rassistischen und eugenischen Praktiken und Gesetze in den Vereinigten Staaten dienten zum Teil als Modell für deutsche Rechtsexperten. Deutsche Juristen und NS-Propagandisten beriefen sich auf Präzedenzfälle in den USA und andernorts und argumentierten, dass die Rassenpolitik der Nationalsozialisten legitim und normal sei. Sie nutzten die Präzedenzfälle auch, um die amerikanische Kritik am NS-Rassismus als Heuchelei darzustellen.
So zitierten deutsche Rechtsexperten beispielsweise ein kalifornisches Eugenikgesetz aus dem Jahr 1909. Diesem Gesetz zufolge war die Sterilisation von Patienten in staatlichen psychiatrischen Kliniken und Einrichtungen für Menschen mit geistigen Behinderungen (einschließlich „Schwachsinnige“ und Epileptiker) sowie von Inhaftierten zulässig. Amerikanische Verfechter der Eugenik waren stolz darauf, dass ihr Gesetz als Muster diente. So kommentierte einer von ihnen das NS-Gesetz, wonach die Zwangssterilisation von Personen auch außerhalb von Einrichtungen zulässig sein sollte, mit den Worten: „Jetzt schlagen uns die Deutschen mit unseren eigenen Waffen!“
1935 verabschiedete das NS-Regime die Nürnberger Gesetze. Daraufhin reisten 45 deutsche Rechtsexperten in die USA, um anhand von amerikanischen Beispielen die Möglichkeiten der Implementierung zu prüfen. Eines der Gesetze, das ihnen nützlich erschien, war der Johnson-Reed Immigration Act aus dem Jahr 1924. Dieses Gesetz sah Quoten für verschiedene Länder Ost- und Südeuropas vor, welche die Einwanderung von dort begrenzten. Bei den Einwanderern aus diesen Ländern handelte es sich vorwiegend um Katholiken und Juden.
Um rechtlich definieren zu können, welche Personen als Juden galten, studierten die deutschen Juristen auch die US-Gesetze über „Blutanteile“. Sie befassten sich mit Bundesstaaten, in denen auf dem ,,Blutanteil" basierende Prinzipien zur Anwendung kamen, um ,,Mischehen" zu verbieten. Keines der US-Gesetze über „Blutanteile“ wurde auf Juden angewendet, denn sie galten als „weiß“. Die Rechtsexperten untersuchten jedoch die allgemeineren rassistischen Prinzipien, die dabei eine Rolle spielten. Eines dieser Beispiele war das Rassenintegritätsgesetz („Racial Integrity Act“) des Bundesstaats Virginia aus dem Jahr 1924. Das Gesetz definierte „weiße Menschen“ als solche, die keinerlei ,,Blut" nicht kaukasischen Ursprungs hatten oder maximal einen Anteil von 1/16 indigenes amerikanisches ,,Blut" und kein anderes nicht kaukasisches ,,Blut".
Das NS-Regime übernahm das Merkmal „Blut“, um die „rassische“ Identität von Menschen zu bestimmen. Diese Standards waren jedoch insofern weniger streng als im Gesetz von Virginia, als der „Blutnachweis“ nur über drei Generationen erbracht werden musste. In einer Gesellschaft, in der die meisten Juden assimiliert waren, mussten die deutschen Behörden andere politische und praktische Überlegungen anstellen. Dazu gehörte die Herausforderung, Personen jüdischer Abstammung zu identifizieren.
Inwiefern ähnelten sich der Rassismus im NS-Regime und in den USA?
Alltag
Die physische Rassentrennung, die Segregation, prägte den Alltag sowohl im NS-Regime als auch im „Jim Crow-Süden“ (und in anderen Bundesstaaten), wo Menschen mit schwarzer Hautfarbe systematisch durch lokale und bundesstaatliche Gesetze unterdrückt wurden. Juden in NS-Deutschland und Farbige in den USA galten gleichermaßen als „rassisch minderwertig“ und wurden als „fremdrassig“ stigmatisiert. Infolge diskriminierender Gesetze und Praktiken waren sie Hass und Demütigungen ausgesetzt und in vielen Lebensbereichen benachteiligt. Neben zahlreichen anderen Grundbedürfnissen und Grundrechten beschnitten diese Gesetze die Bewegungsfreiheit, den Zugang zu Bildung, Wohnraum, Verkehrsmitteln, öffentlicher Versorgung und Freizeitaktivitäten sowie die freie Wahl des Ehepartners. In den öffentlichen Bereichen beider Staaten wurden Schilder aufgestellt, die den Zugang reglementierten. So gab es in NS-Deutschland Bänke mit der Aufschrift „Nur für Juden“ oder „Nur für Arier“ oder Schilder an öffentlichen Schwimmbädern und Ortseingängen mit dem Hinweis „Für Juden ist der Zutritt verboten“. Im „Jim Crow-Süden“ war an Kinos, Restaurants, Wasserspendern, Toiletten und anderen öffentlichen Plätzen „Nur für Weiße“ oder „Farbige“ zu lesen.
Militär
Das Militär beider Länder praktizierte die Segregation, allerdings auf völlig unterschiedliche Weise. Im Dritten Reich war es Juden nach der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 verboten, in der Wehrmacht zu dienen. In den USA hingegen dienten schwarze Amerikaner in separaten Einheiten bis 1948 im Militär. (1948 erließ Präsident Truman eine Durchführungsverordnung, die Diskriminierung untersagte und die den langen Prozess der Integration einleitete.)
Der Erfolg der Rassenpolitik und Segregation war sowohl in NS-Deutschland als auch in den USA von der Duldung bzw. der aktiven Unterstützung durch die Bevölkerung abhängig. Viele Normalbürger profitierten finanziell, politisch oder auf psychologischer Ebene von den diskriminierenden Praktiken. Die Nationalsozialisten propagierten die Mitgliedschaft in einer auf der ,,Rasse" basierenden Volksgemeinschaft. Von dieser „Gemeinschaft“ waren Juden und andere Gruppen jedoch ausgeschlossen. Loyalen „Ariern“ bot sie hingegen ein Einheitsgefühl und Nationalstolz. Viele Deutsche, vor allem junge Menschen, entwickelten ein Gefühl der Zugehörigkeit. In den USA genossen weiße Bürger einen privilegierten Status und ihnen vorbehaltene Chancen. In beiden Ländern waren viele Bürger von der weißen Vormachtstellung bzw. „arischen“ Überlegenheit überzeugt. Diese Überzeugungen haben in unterschiedlicher Ausprägung bis heute Bestand.
Fortbestand von Rassismus und Antisemitismus
Trotz der Tatsache, dass die moderne Wissenschaft die aus dem 20. Jahrhundert stammende Auffassung biologisch bestimmter, unterschiedlicher „Rassen“ vollständig widerlegt hat, haben Rassismus und Antisemitismus in den Vereinigten Staaten, in Europa und in anderen Ländern weiterhin Bestand.
Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust wurde die Eugenik aus verschiedenen Gründen diskreditiert. Ein Grund dafür waren der im Namen der NS-Rassenideologie begangene Völkermord und andere Verbrechen. Ein weiterer Grund waren fortschrittlichere wissenschaftliche Erkenntnisse über die menschliche Genetik. Es ist wissenschaftlich belegt, dass es keine spezifischen Genpools gibt, die eine Zuordnung zu einer bestimmten „Rasse“ zulassen würden. Bei allen Menschen stimmt die DNA zu etwa 99,9 % überein. Darüber hinaus haben Forschungen ergeben, dass alle menschlichen Populationen ihre genetischen Wurzeln auf einen gemeinsamen Ursprung in Ostafrika zurückverfolgen können.
Wissenschaftler stimmen heute darin überein, dass „Rasse“ kein genetischer oder biologischer Faktor ist. „Rasse“ ist vielmehr ein kulturelles und soziales Konzept, das je nach Zeit, Ort und Umständen variiert – eine Erfindung des Menschen.
Im Laufe der Geschichte hat Hass gegen bestimmte Gruppen überlebt, auch wenn sich die Motive dafür manchmal geändert haben. Die Ausgrenzung von Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Religion, Ethnizität oder Nationalität führt völlig unabhängig vom angeführten „Grund“ weiterhin zu Diskriminierung, Verfolgung und Gewalt, darunter Massengräueltaten und Völkermord.
Kritische Fragen
Inwiefern unterscheiden sich die damaligen Rassengesetze und Praktiken des NS-Regimes von den entsprechenden Gesetzen und Praktiken in den USA? Was haben sie gemeinsam? Wie haben sich die Unterschiede jeweils auf die Menschen ausgewirkt, die von den Gesetzen betroffen waren?
Untersucht die eugenische Bewegung vor dem Zweiten Weltkrieg. Welche Rolle spielte die Eugenik in den Gesetzen und in der Politik beider Länder?
Womit rechtfertigen Rassisten ihre Überzeugungen? Was kann radikalen Gesinnungen wie diesen entgegengesetzt werden?